Hof- & Hoffnungsgasse
Ein Nachbarschaftschor
Projekt Hintergrund
Am 13.03.2020 wurde um die Mittagszeit klar, dass ein „lockdown“ unmittelbar bevorsteht. Noch während Kinder ihre Schulunterlagen in den Klassen packten, um auf unbestimmte Zeit zu Hause zu bleiben, erschienen in sozialen Medien die ersten Aufrufe, angelehnt an entsprechende Videos aus Italien, um 18h an Fenstern gemeinsam zu musizieren. Dies sollte ein Zeichen der Solidarität und Dankbarkeit für sogenannte SystemerhalterInnen sein. Ich wollte, entgegen meiner Einschätzung, dass dies für viele Menschen einen Aufruf darstellt, ausschließlich „Österreich“ zu stärken, ein Zeichen setzen: um nicht kurzsichtig und provinziell zu erscheinen, diente mir die Europahymne als musikalische Vorlage eine andere Botschaft zu senden. Mit Fokus auf internationale Solidarität setzte ich in der kleinsten erreichbaren Gemeinschaft an: der unmittelbaren Nachbarschaft. Gerade in den ersten Tagen der Covid Krise in Österreich, in Stunden der Ungewissheit, der Abgeschiedenheit und Verunsicherung, wollte ich durch Musik und gemeinsames Singen, NachbarInnen, die sonst in gewohnter urbaner Lebensweise anonym nebeneinander leben, miteinander in Kontakt bringen um sich gegenseitig zu stärken und zu ermutigen.
Projektstart
Initiativ ging ich an den ersten 2 Tagen um 18h durch die Gasse, um so die NachbarInnen zu erreichen (zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine persönlichen Kontakte) während aus meinem Studio laut Musik in der Gasse zu hören war, um zunächst alleine die umgetextete Europahymne zu singen:
Wir sind Hof und Hoffnungsgasse
Virus du kannst scheissen gehen
Darum singen wir gemeinsam
während wir am Fenster stehn`
In die Gasse,
in die Städte
in die ganze Welt hinaus
Virus du kannst scheissen gehen
Wir sitzen das friedlich aus
Bereits zu diesem Zeitpunkt, öffneten einige NachbarInnen die Fenster und stimmten, mit Stimme oder Kochtöpfen ein. Um allen Interessierten die Texte zugänglich zu machen, habe ich den ausgedruckten Text an allen Hauseingängen in der Gasse aufgehängt und eingeladen, gemeinsam zu singen. Gleichzeitig begann ich zu überlegen, welches Lied man weiters gemeinsam singen könnte. Es war klar, dass es ein aufmunternder und ermutigender Text sein sollte. So wurde (zu der Melodie von „Hey Jude“) der Text zu „Nur Mut“ geschrieben. Durch Zuruf aus den Fenstern wurde eine WhatsApp Gruppe erstellt, die in Folge als Kommunikationsplattform der NachbarInnen diente, nicht nur als Ort um neue Stücke vorzustellen, die gleichzeitig auch immer an den Hauseingängen angeschlagen wurden um den Zugang allen anderen zu ermöglichen. Schön war zu beobachten, dass Menschen aller Altersstufen und aus gänzlich unterschiedlichen Lebensbereichen zum Singen kamen. Vom Kinderwagen bis zum Rollstuhl, aus dem Gemeindebau und der Biedermeier Wohnung waren VertreterInnen der nahen Wohnumgebung interessiert, motiviert und viele sehr glücklich und dankbar dabei zu sein. Wir haben schließlich von 15.03. bis 01.05. täglich gemeinsam um 19h gesungen. Seit 1.05. singen wir immer Montags.
Der künstlerische Aspekt
Mir war schnell klar, dass dieser Nachbarschaftschor nur dann funktionieren kann, wenn die gesungenen Stücke eine weite Bandbreite aufweisen. Ich habe daher nach Stücken gesucht, von denen ich annehmen konnte, dass Sie allen bekannt sind und mehrere Generationen miteinander verbinden – gleichzeitig ist mir wichtig, keine platten – „I am from Austria – und daher super“ … Klischees zu bedienen. Ich habe daher folgende Stücke umgetextet:
Beethoven „Ode an die Freude“ „Hoffnungsgasse“
The Beatles „Hey Jude“ „Nur Mut“
Queen – „We will rock you“ „Virus schleicht dich“
Kraftwerk „Das Model“ „Das Zukunftsmodell“
Depeche Mode „Enjoy the Silence“ „Bin kein Apfel“
Rio Reise „König von Deutschland“ „Erfinder von Impfstoff“
Mir war wichtig, die Menschen aus der Nachbarschaft einzuladen, selbst mit zu musizieren. Ich habe an Kinder der Umgebung Instrumente verteilt und eingeladen Töpfe und Trommeln zu bringen. Und es funktioniert: K. bringt seine Trommel, die sonst nur Dekoration ist, Kinder trommeln, und weit über die Gasse hört man Töpfe und ähnliches schallen. Fast allen bringt das Singen ein Lächeln ins Gesicht. Andere berichten, wie befreiend und schön es ist, ganz ungezwungen Musik machen zu können, ohne ein Instrument zu beherrschen und die Angst zu haben jemanden damit zu belästigen.
Der soziale Aspekt
Bereits nach wenigen Wochen ist spürbar, dass sich etwas verändert hat in der Gasse. Menschen, die jahrelang nebeneinander her gelebt haben und nichts voneinander wussten, kennen sich jetzt. Wir bekamen Dankschreiben, kleine Geschenke wurden an die mitsingenden Kinder übergeben, als Dank für die Aufmunterung, und die schöne tägliche Routine, die vielen Halt und Freude während der ungewissen Zeit brachte.
Die Musik und das gemeinsame Musizieren hat uns näher gebracht: Hilfe und Unterstützung wird einander angeboten, Bücher werden getauscht und wir haben gemeinsam (virtuell) eine Hochzeit, eine Matura, etliche Geburtstage und die Verabschiedung von Langzeitgästen gefeiert. Inzwischen wird auch eine Quiche angeboten, wenn zuviel da ist . . . .
An einem Termin für eine „Block Party“ wird gearbeitet – die Zustimmung von Bezirk und den zuständigen MAs haben wir schon.
Ausblick
Ziel ist, weiterhin zusammen zu singen und durch gemeinsame Feste und Begegnungen, die Qualität urbanen Zusammenlebens weiter zu verbessern. Dazu zähle ich auch, Ideen, Vorschläge, Projekte, die seitens Stadt oder Bezirk unser Grätzl betreffen, in der neuen Nachbarschaft zu diskutieren bzw. auch eigene Vorschläge einzubringen. Diese Form des sich Einbringen, Partizipieren und der Wunsch von Mitgestaltung, ist meines Erachtens am besten in so einer „kleinen“ Form lokaler Vernetzung bzw. zivilen Engagements machbar. Ich habe bereits so viel positives Feedback erhalten, von ganz unterschiedlichen Menschen, dass ich davon ausgehen kann, dass hier wirklich etwas „Neues“ entstanden ist. Das möchte ich nun verfestigen und stärken.
Konkreter nächster Schritt:
Die Gasse mit Pflanzentrögen zu bestücken und die BewohnerInnen des jeweiligen Hauses einzuladen diese zu gießen und zu pflegen – um auch gemeinschaftliches Miteinander und Wertschätzung sichtbar zu machen.
Vor unserem Haus habe ich damit schon begonnen . . .
Anhang
Die Texte werde ich frei zur Verfügung stellen, um andere Menschen dazu einzuladen, auch miteinander zu singen und sich dadurch kennen zu lernen.
„NUR MUT“
Hey Du
schön Dich zu sehn´
Ja wir nehmen uns dieses Lied
und singen solange es sein muss
weil es uns Freude und Zuversicht gibt
Hey Du
schön dich zu hörn´
Ja wir singen diese Noten
und schicken damit unsere Kraft
wir sind somit die Hoffnungsboten
La La La LaLaLa LaLaLa NUR MUT
Hey Du
schön dich zu sehn´
Ja wir singen einfach weiter
und reichen somit unsere Hand
bis dieses Scheiß Ding endlich verbannt
Hey Du
schön dich zu hörn´
ja wir tönen laut durch die Gassen
und hoffen und freuen uns darauf
Virus du kannst uns jetzt verlassen
La La La LaLaLa LaLaLa NUR MUT
„Das Zukunftsmodel“
Es ist ein Virus und wir schauen raus
Ich bleib nicht gern gezwungen hier im Haus
Virus nervt – komm nicht zu nah´ heran
Der Tarek sagt uns täglich was es kann
Wir haben(ham) die Folgen jetzt gecheckt (Korrekt)
Der Griller für alle bleibt noch zugedeckt
Ich freu mich schon wenn wir da unten stehn´
Videos vom Singen dann als „damals“ sehn´
Wir stellen uns zur Schau für das Gesangsprodukt
Von Optimisten ham wir´s abgekuckt
Die Zukunftsvision ist einfach fabelhaft
Wenn wir dann schreien JA wir ham´s geschafft
„Erfinder von Impfstoff“
Der Margaretenplatz ist jetzt ein Strandbad
Corona Oida das war ur fad
Begegnungszonen werden geliebt
weil es sonst nicht viel zu tun gibt
Angstmache ist jetzt nur noch Fremdwort
Stress ein Dino im Museum drüben dort
Geld ist nur mehr Zeitvertreib
Armut ist Vergangenheit
Das alles und noch viel mehr
Würd‘ ich reintun
Wenn ich Erfinder von Impfstoff wär`
Ich würd‘ die Krone täglich tauschen
in Hitparaden würd` man Neuem lauschen
Ausländer wären nicht per se Verbrecher
Wären so beliebt wie Spargelstecher
Machterhalt wär jetzt verpönt
Weil er immer nur den eigenen Style föhnt
In diesem Haus sind alle willkommen
Vorurteile wurden abgenommen
Das alles und noch viel mehr
Würd‘ ich reintun
Wenn ich Erfinder von Impfstoff wär`
Die Socken und die Autos dürften nicht mehr stinken
Es gäbe keinen Kater nach dem Trinken
Wir wären reicher als Jeff Bezo
würden Geld verschenken, einfach nur so
Solidari hätt´kein „tät“
Für Freundlichkeit ist´s nie zu spät
Wir ziehen jetzt den goldenen Hut
Und singen Solidaritut tut allen gut